„Überall ist Taksim – Überall ist Widerstand“: Im Frühsommer 2013 demonstrierten in Istanbul tausende, überwiegend junge, Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern gegen die Zerstörung des Gezi-Parks. Was als Demonstration gegen ein Bauprojekt begann, entwickelte sich zu einem Protest gegen die Politik der Regierung Erdogan. Diese schlug die Demonstrationen im Gezi-Park und auf dem nahegelegenen Taksim-Platz blutig nieder.
Die beiden jungen deutsch-türkischen Filmemacherinnen Biene Pilavci und Ayla Gottschlich drehten damals vor Ort und gerieten dabei selbst in große Gefahr. Dennoch entschieden sie sich, in Istanbul zu bleiben und einige Demonstranten weiter zu begleiten.
Zu ihnen gehört der junge armenische Istanbuler Bimen, der sich den Protesten anschloss, weil die Baumaßnahmen auch die Reste eines armenischen Friedhofs beseitigen würden. Tamer ist ein Journalist, dem während der Gezi-Proteste gekündigt wurde, weil er sich weigerte, eine Falschmeldung über die Proteste zu verfassen. Monate später findet er bei einem pro-kurdischen Privatsender eine neue Anstellung. Trotzdem betrachtet er seine beruflichen Chancen in der Türkei als aussichtslos. Auch gläubige Muslime befanden sich unter den Gezi-Besetzern. Rojda ist eine der Wortführerinnen der antikapitalistischen Muslime, die sich gegen Erdogans autoritären Führungsstil wehren und auf Gemeinwohl statt auf Eigentum setzen.
Biene Pilavci und Ayla Gottschlich haben diese und weitere Menschen aus der Demokratiebewegung bis zu den Parlamentswahlen im August 2014 begleitet. Anlässlich der türkischen Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 zeigen ARTE und das ZDF dieses Portrait der jungen Demokratiebewegung in der Türkei. CHRONIK EINER REVOLTE ist ein Film über die Hoffnungen, Wünsche, Ängste und den Mut junger Istanbuler, sich für ein freies und selbstbestimmtes Leben einzusetzen. Für Erdogan sind sie bis heute „Capulcus“- Gesindel.
Technische Details
Deutschland, 83‘, 57‘, 2015, Drehformat: HD/25 fps, Endformat: DCP / 24 fps/ Bluray/ 25 fps, Audio stereo OV, Sprachen: Türkisch mit dt. VO und mit dt. und engl. Untertiteln, Türkische VO mit dt. und engl. Untertiteln
Stab
Buch, Regie und Schnitt Biene Pilavcı, Ayla Gottschlich
Kamera Tan Kurttekin, Fatih Pınar, Armin Dierolf, Güray Varol, Ersin Aldemir
Ton Erkal Taşkın
Musik Cornelius Schwehr
Sounddesign und Mischung Jan Pasemann
Produktion Soilfilms
Co-Produktion Parcours Pictures
Produktionsleitung Yüksel Yılmaz
Herstellungsleitung Yüksel Yılmaz, Aysel Yılmaz
Betreuende Redakteure Kathrin Brinkmann (ZDF/ARTE Thema), Burkhard Althoff (ZDF-DAS KLEINE FERNSEHSPIEL)
Director’s statement
Neulich Nachts im Gezi Park – Menschen trinken Tee und sprechen leise miteinander, andere beschäftigen sich mit organisatorischen Dingen oder wissen nicht, wohin mit sich. Doch die Meisten sitzen gebannt vor der Leinwand und sehen sich THE GREAT DICTATOR von und mit Charlie Chaplin an. Und obwohl eigentlich alle Menschen einfach nur erschöpft und sich viele vorher nie im Leben begegnet sind und höchstens den Geruch voneinander wissen, springen sie in der Abschlussrede des Diktators auf, jubeln mit und fallen sich gegenseitig um den Hals.
Mit einem starken Gruppengefüge lassen sich Berge versetzen. Sich völlig loszulösen von sich selbst, nur um einer Sache zu dienen, erfordert viel Hingabe, Mut und viel Idealismus. Jedoch ist ein Wir-Gefühl auch mit Vorsicht zu genießen. Schnell können dabei die ideellen Ziele zu einem Selbstläufer werden, nur um ein anderes, verborgenes Ziel zu verfolgen. Und dieses Ziel könnte lauten: völlige Selbstaufgabe, nur um vielleicht nicht alleine sein zu müssen und so lange wie möglich von der Gruppenharmonie zu zehren. Wir Menschen sind oft von diesem Harmoniebedürfnis dermaßen getrieben, dass die dabei entstehende emotionale Abhängigkeit über Selbstverleumdung bis hin zur Selbstverzweiflung führen kann.
Auch bei unseren Protagonisten sind derlei Tendenzen nicht auszuschließen. Das ist nur natürlich und menschlich, alles andere wäre Augenwischerei, schließlich leben wir nicht in THE GREAT DICTATOR. Diese menschlichen Aspekte der Anatomie eines angehenden Systemumsturzes interessieren mich als Filmemacherin besonders. Wohin werden sie ihren Weg fortsetzen, wenn sie sich aus dem wachsenden Gruppendruck emanzipieren? Möglicherweise geht es auch nicht um Emanzipation, sondern um Kondition, Menschen gehen unterschiedlich mit Änderungen um. Eine Euphorie kann auch zu einer Alltäglichkeit werden. Und in diesem Moment muss auch mit einem gewissen
Euphorie-Überdruss gerechnet und umzugehen, gelernt werden.
Ich selbst erfahre meine aktive Politisierung zur Zeiten des Mauerfalls. Über die Anschläge in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen finde ich mich über die allgemeine Umweltzerstörung und industriellen Massentierhaltung im linksradikalen Spektrum wieder. Mein Atem stockt als in Genua der Aktivist Carlo Giuliani während des G8 Gipfels niedergeschossen wird. Kurz darauf stürzen die beiden Türme in New York zusammen und ich bin vollends verloren. Eine erneute Suche nach mir selbst beginnt und dauert fortan.
Als sich die Menschen im Gezi Park neulich Nachts um den Hals fallen, bin ich einerseits ergriffen und anderseits unfähig mich auf diese ehrliche Emotionalität einzulassen. Zu groß ist meine Furcht vor dem Sturm, vor der Vereinnahmung und Instrumentalisierung anderer Interessengruppen. Zu groß ist meine Sorge über zu hohe Erwartungen, die unmöglich eine Gruppierung geschweige denn eine ganze Bewegung erfüllen kann. Ja, ich kenne das Abdriften in ein fragwürdiges Wir-Gefühl. Ich kenne die Hoffnung und ich kenne die Enttäuschung. Deswegen bin ich Filmemacherin. Jemand, der beobachtet und bewusst nicht teilnimmt. Das kann ich am besten.
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